Der Hinterlandswald - Biologische Vielfalt im Wispertal

Neben dem Nationalpark Kellerwald-Edersee findet sich hier das zweitgrößte Gebiet mit potentieller Wildnisentwicklung in Hessen

Als "Hinterlandswald" werden im Rheingau die Waldungen bezeichnet, die im Gegensatz zum "Vorderwald" außerhalb des Rheingauer Gebücks lagen und nach dem Rheingauer Weistum von 1324 als Landallmende dem Generalhaingericht des Rheingaus unterstanden.

Der Hinterlandswald war anders als der Vorderwald nicht auf die Rheingauer Gemeinden aufgeteilt, sondern das Nutzungsrecht stand ihnen nur gemeinsam zu. Die Waldungen erstreckten sich im Wesentlichen im Ernstbachtal und seinen Nebentälern bis hin zur Wisper.

Aufgrund der Abgeschiedenheit des Hinterlandswaldes und des unwegsamen Geländes wurde er hauptsächlich für die Köhlerei und als Waldweide genutzt. Nachdem schon vor dem Dreißigjährigen Krieg Anzeichen für Raubbau zu verzeichnen waren, wurden im 18. Jahrhundert zwei Revierförster für den Hinterlandswald bestellt. Ihr Sitz war das Forsthaus Weißenturm bei Presberg und das spätere Erbacher Forsthaus bei Niedergladbach. Weder diese beiden Förster, denen es an Fachwissen und Ausbildung fehlte, noch eine neue Haingerichtsordnung des Kurfürsten Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim von 1772 konnte dem gravierenden Raubbau abhelfen. Erst nach dem Übergang des Rheingaus an das Herzogtum Nassau trat eine Wende ein. Die Haingerichtsverfassung wurde 1808 aufgehoben und die Aufteilung des Hinterlandswaldes auf die Gemeinden im Rheingau wurde eingeleitet. 1822 wurde sie durch einen Vergleich abgeschlossen, mit dem sich jede Gemeinde einverstanden erklärte.

Durch die energetisch-industrielle Revolution sank ab 1800 zunehmend die Bedeutung der Wälder als Energielieferanten. Unter dem Herzogtum Nassau begann zudem durch eine zunehmend geregelte Forstwirtschaft eine Regeneration (Wiederaufbau) des Waldes, der unter preußischer Verwaltung ab 1866 noch verstärkt fortgesetzt wurde. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es wieder zunehmend ertragreiche und gut gepflegte Waldbestände mit vielfältigen, positiven Wirkungen für die hier lebenden Menschen. Mit dem Ziel einer leichteren Waldbewirtschaftung wurde 1939 der Zweckverband Hinterlandswald gegründet. Zur besseren Erschließung der abgelegenen Waldgebiete wurde vom Reichsarbeitsdienst die 13 Kilometer lange Hinterlandswaldstraße gebaut. Sie führt von Hausen vor der Höhe auf dem Höhenrücken zwischen Ernstbachtal und Gladbachtal nach Norden und ist bis zum Ende der Kammlinie mit einem Asphaltbelag befestigt. Dann steigt sie kurvenreich entlang den Steilhängen des Wispertals hinunter zur Laukenmühle ab. Außer der Hinterlandswaldstraße gibt es im gesamten Hinterlandswald keine asphaltierten Wege. Somit ist dieses Waldgebiet heute das größte, nicht durch Bundesstraßen oder ähnliches zerschnittene, ökologische Rückzugsgebiet der Tierwelt in Hessen. Der Hinterlandswald gehört größtenteils zu dem FFH-Gebietsvorschlag (FFH=Fauna-Flora-Habitat) Wispertaunus. Es hat eine Fläche von über 210 km² und ist zugleich das siebtgrößte Gebiet akustischer Ruhe in Hessen - ohne Berücksichtigung des Fluglärms nimmt es sogar unangefochten den ersten Platz ein.

Ganz aktuell wurde der ökologische Wert dieses wertvollen Waldgebietes durch die Entscheidung des Landes Hessens aufgewertet, einen Teil seiner Waldungen aus der (menschlichen) Nutzung zu nehmen. In diesen sogenannten "Prozessschutz" ist ab Juli 2016 eine große zusammenhängende Fläche von über 1.000 ha = 10 km² aufgenommen worden. Ab dieser Flächengröße geht die Wissenschaft gegenwärtig von einer möglichen Entwicklung zu einer echten Wildnislandschaft aus. Ein spannender Prozess, den wir intensiv verfolgen werden.

Neben diesem großen Gebiet in der Nähe von Presberg gibt es noch zahlreiche kleinere Flächen im Naturparkgebiet, welche diesen Status erhalten haben. Insgesamt werden allein im Staatswald auf diesem Weg gegenwärtig über 1.730 ha Wald einer natürlichen Entwicklung überlassen.

Diese Flächen werden erheblich zur Sicherung und Weiterentwicklung der Biologischen Vielfalt unserer jetzt schon reichen Kultur- und Naturlandschaft beitragen.  

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